Teashirt: GWAS, Pleiotropie und das Problem der missing heritability
Das Gen dieser Woche und viele der dabei erwähnten Forschungsarbeiten stehen stellvertretend für so viele genetische Studien, dass kein einzelner Mensch mehr ansatzweise den Überblick behalten kann. Die Rede ist von so genannten genome wide association studies, kurz GWAS, und die Idee dahinter ist relativ einfach.
Man nehme DNA einer möglichst große Patientengruppe, sagen wir mal Alzheimer Patienten. In einer großen Klinik, vor allem in einer spezialisierten Klinik und vor allen im Rahmen von Kollaborationen spezialisierter Kliniken weltweit ist es keine besondere Schwierigkeit DNA-Proben von vielen derartigen Patienten zu bekommen. Außerdem nehme man DNA-Proben von jeder Menge Menschen, die nicht an Alzheimer leiden. Das Genom all dieser Patienten und Nicht-Patienten weist Millionen so genannte Polymorphismen auf, also Stellen an denen sie sich eben unterscheiden. Nun braucht man „nur“ noch einen leistungsstarken Algorithmus und ein wenig Rechenpower und schon kann man sich auswerten lassen, welche all dieser Polymoprhismen in den beiden Gruppen ungleich verteilt sind.
Derartige GWAS gibt es mittlerweile für absolut ALLES: Reisekrankheit, Körbchengröße, Pickel im Gesicht und politische Präferenzen. Eine 2015 längst überfällige und hochkarätig in Nature Communications publizierte Studie untersuchte endlich mal gründlich die Genetik so ziemlich aller denkbaren Parameter der Gestalt des Ohres. Auch mit Patienten, die an Autismus oder assoziierten Erkrankungen leiden (im englischen spricht man in aller Regel von autism spectrum disorders, kurz ASD), hat man Studien dieser Art bereits unzählige Male gemacht. Und Teashirt ist eben eines der Gene, von dem spezifische Varianten in den beiden Gruppen nicht gleichmäßig verteilt sind.
Zunächst nochmal kurz zu den GWAS im Allgemeinen: ohne im Detail auf technische Schwierigkeiten einzugehen (dies es mit sich bringen, dass hauptsächlich eine bestimmte Art von Mutationen in diesen Studien berücksichtigt werden, wobei etliche andere individuelle Unterschiede in unseren Genomen dabei unentdeckt bleiben), möchte ich kurz darstellen, welche Art von genetischen Variabilitäten denn hiermit untersucht werden (könnten). Dazu hab ich im Grafikprogramm den roten Pinsel ausgepackt und ganz viele Pünktchen in einen Graphen gesetzt. Voilà:
Sagen will ich damit folgendes: es gibt einigermaßen überschaubar viele Erkrankungen, die hervorgerufen werden durch Mutationen an einem einzigen Gen. Dazu gehört zum Beispiel Mukoviszidose (Cystische Fibrose), Huntingtons oder auch Creutzfeldt-Jakob. Wenn man je nach Krankheit EINE oder ZWEI Kopien einer ganz bestimmten Variante eines ganz bestimmten Gens in sich trägt, dann wird man auch diese Krankheit entwickeln. Diese Wahrscheinlichkeit, bei vorliegen einer bestimmten Mutation eine bestimmte Krankheit auszubilden heißt Penetranz. Bei einigen wenigen Krankheiten liegt diese Penetranz nun eben bei 100% oder nur leicht darunter. Für die allermeisten „Mutationen“, oder besser Polymorphismen (ein neutralerer Ausdruck für Stellen des Genoms an denen sich verschiedene Individuen unterscheiden) gilt das nicht. Es gibt etliche, unzählige Stellen, wo zum Beispiel bei 50% der Menschen ein A steht, bei 30% der Menschen ein C und bei 20% ein T. Wenn man sich nun große Gruppen von Menschen anschaut, dann könnte man zum Beispiel erkennen, dass unter den Trägern eines T ein kleines bisschen mehr Menschen mit einer Autismus-Diagnose sind, als unter den Trägern eines A. In beiden Gruppen allerdings bleibt Autsimus die Ausnahme, aber die statistische Signifikanzhürde ist überwunden; wenn vielleicht auch nur ganz knapp. Aber signifikant ist eben signifikant und reicht in jedem Fall aus um die Beobachtung zu publizieren. Wenn man nun nur die statistisch mächtigsten dieser Stellen zusammenträgt und auf einer Karte des Genoms verzeichnet, welche Assoziation man für die Stelle gefunden hat, wird das schon relativ unübersichtlich.
Und dennoch sind Genetiker mit dem Output nach etlichen Jahren, sowie unzähligen Petabytes von GWAS-Daten, unzufrieden. Es kristallisierte sich etwas heraus, was man in der Fachliteratur als missing heritability problem bezeichnet: Zwillingsstudien und Stammbaumanalysen deuten auf eine sehr viel größere Erblichkeit von Krankheiten hin, als in den GWAS entdeckt wurde. Was Autismus angeht, ist dieses Problem beosnders ausgeprägt. Wird ein eineiiger Zwilling mit Autsimus diagnostiziert, so liegen die Chancen, dass Autismus auch beim anderen Zwilling diagnostiziert wird, bei etwa 75%. Genetische Faktoren mit hoher Penetranz findet man jedoch kaum. Um diese missing heritability aufzuspüren, überschlagen sich die Studien zur Autismus-Genetik und man hat das Gefühl im Jahresabstand kommt wieder die „größte je dagewesene Assoziationsstudie“ raus, wie zum Beispiel hier (2015) und hier (2016).
Nur eine Variation unter unzähligen anderen also ist 19q12-q13.11, eine Deletion auf dem langen Arm (q, im Gegensatz zum kurzen Arm, p) des Chromosom 19. Eine Studie aus dem Jahr 2014 untersuchte fünf Patienten mit dieser Deletion: zwei davon hatten schwere Verwachsungen von Fingern und Fußzehen, genannt Ektrodaktylie; die drei anderen zeigten starke Entwicklungsverzögerungen. Dieser Effekt ist durchaus nicht untypisch in der Genetik und wird Pleiotropie genannt: dieselbe Mutation kann zu verschiedenen Ausprägungen führen. In diesem Fall traten die verschiedenen Ausprägungen in verschiedenen Patienten auf. Eine neue Studie von 2016, in der dieser 19q12-q13.11 Deletion auf den Grund gegangen wurde, behandelt eine andere Art der Pleiotropie. Denn schon mehrfach wurde beobachtet, dass zwei scheinbar völlig voneinander unabhängige Erkrankungen oftmals zusammen auftreten. Wenn dem eine gemeinsame Mutation zugrunde liegt, dann löst diese also in denselben Patienten verschiedene Dinge aus.
Schon seit einiger Zeit wird beobachtet, dass Autismus (und andere Entwicklungsstörungen) häufiger zusammen mit Nierenerkrankungen auftreten, als es der Zufall vorhersagen würde. In dem Artikel, der Ende September in Nature Genetics erschienen ist, wird ein Gen untersucht, dass in genau dem Bereich liegt, der von der Deletion betroffen ist: es wurde bereits 1991 in der Fruchtfliege entdeckt und teashirt genannt. Teashirt ist ein Transkriptionsfaktor, das heißt, das Teashirt Protein bindet an die DNA und reguliert dort die Aktivität anderer Gene. Und teashirt, so hat man nun herausgefunden, ist bei Maus und Mensch in der sich entwickelnden Großhirnrinde exprimiert. Wenn ein Transriptionsfaktor defekt ist, erwartet man Auswirkungen auf die Expression aller Gene, die durch diesen Faktor reguliert werden. Und tatsächlich war die Expression etlicher anderer Gene in der Großhirnrinde verändert, nachdem man in Mäusen das teashirt Gen gezielt kaputt gemacht hat. Darüber hinaus zeigten diese Mäuse auf einmal Verhaltensauffälligkeiten. Üblicherweise „erkunden“ Mäuse einen ihnen unbekannten Artgenossen ausgiebiger, als einen bereits bekannten. Dies war bei den Mäusen mit der teashirt Mutation nicht mehr der Fall. Welcher (neuronale) Mechanismus dieser Verhaltensänderung zugrunde liegt lässt sich insbesondere bei einem Transkriptionsfaktor schwer herausfinden, da die Effekte, die durch die Veränderung so vieler anderer Gene auftreten einfach zu umfangreich sind (viele von diesen Genen kodieren wieder für Transkriptionsfaktoren und regulieren daher die Aktivität von noch mehr anderen Genen).
Und wo kommt die Niere ins Spiel? Nun, dass Mäuse mit dem mutierten teashirt Gen deformierte Harnleiter und abnormale Flüssigkeitseinlagerungen in den Nieren haben, hatten dieselben Forscherteams bereits 2008 beschrieben. Aber auch hier ist es noch ein langer Weg um die black box zu füllen, die zwischen dem kaputten Transkripitonsfaktor und den Nierendefekten liegt.